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Das kurze politische Gedächtnis der Schweiz

  • andreahuber3
  • Jun 2, 2024
  • 2 min read

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Die Schweiz soll das "Klima-Urteil" des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ignorieren, tönt es aus der Politik. Dieselben Leute klangen vor ein paar Jahren noch ganz anders.


Schon vergessen? Am 25. November 2018 feierten wir 66 Prozent Nein zur sog. «Selbstbestimmungsinitiative (SBI)» der SVP. Auch alle Kantone lehnten die Initiative ab. Das klare Nein war ein lautes Ja zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und zur Schweiz als verlässliche Partnerin bei völkerrechtlichen Verpflichtungen.


Schon vergessen? Die EMRK ist für die SVP schon lange ein Stein im Weg für die Umsetzung von menschenrechtswidrigen Volksinitiativen, wie etwa die Ausschaffungsinitiative. Darum wollte sie eine Kündigung der Konvention und dachte über eine entsprechende Volksinitiative nach. Die SBI war mit der Forderung nach Vorrang von Landesrecht allgemeiner formuliert – die Absicht dieselbe. Die SVP behauptete im Abstimmungskampf vehement, die Kündigung sei nicht ihr Ziel, Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sollten aber nur wahlweise umgesetzt werden. Mit diesem angepassten Narrativ reagierte die SVP auf den starken Widerstand aus der Zivilgesellschaft: Mit «Schutzfaktor M» vereinten wir über 120 zivilgesellschaftliche Organisationen gegen die «Anti-Menschenrechts-Initiative» und alle anderen Parteien zogen mit. «Schutzfaktor M» machte fünf Jahre lang Sensibilisierungs- und Kampagnenarbeit. Jetzt fordert die SVP in einer Motion erneut die Kündigung der EMRK.


Schon vergessen? Im Abstimmungskampf äussersten sich die bürgerlichen Parteien lautstark gegen die Angriffe der SVP auf die EMRK und das Völkerrecht. Jetzt – nur vier Jahre später - fordert die Rechtskommissionen des Ständerates den Bundesrat formell dazu auf, das «Klima-Urteil» des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu ignorieren. Die Begründung liest sich wie das frühere Kampagnenmaterial der SVP zur «Selbstbestimmungsinitiative». Zu den neuen Ja-Sagern gehören etwa Daniel Jositsch (SP), Andrea Caroni (FDP) oder Beat Rieder (die Mitte). Die Rechtskommission des Nationalrates stimmt in den Anti-EMRK-Kanon mit ein.


Schon vergessen? Die EMRK bildet seit 50 Jahren die Basis für die Verfassungen der Länder Europas. Russland wurde 2022 wegen des brutalen Krieges in die Ukraine aus dem Europarat ausgeschlossen. Bereits Jahre zuvor setzte Russland Urteile nur wahlweise um. Also Umsetzung «à la carte», wie es die Rechtskommission jetzt vom Bundesrat verlangt. Während also in der Ukraine Hundertausende sterben beim Verteidigen der «europäischen Werte», wird die EMRK als eigentliches Bollwerk dieser Werte ausgerechnet von den Rechtskommissionen des Schweizer Parlamentes angegriffen.


Es gab in der Vergangenheit immer wieder Urteile, welche einigen nicht gefielen. Diese zu akzeptieren, bedeutet, die Gewaltenteilung zu respektieren als Grundpfeiler der demokratischen Ordnung. Die Motion der Rechtskommission gibt den Angriffen der SVP auf die Menschenrechte Aufwind. Die SVP lancierte vor ein paar Tagen ihre «Grenzschutz-Initiative». Es ist jetzt schon klar, dass deren Umsetzung gegen die EMRK verstossen würde. Wie wollen denn die anderen Parteien künftig argumentieren, wenn die SVP darauf drängt, entsprechende Urteile zu «ignorieren»?


Wir brauchen jetzt keine Fähnchen im Wind, sondern Politiker*innen, die die demokratischen Errungenschaften verteidigen. Die EMRK ist eine dieser Errungenschaften. Nicht vergessen!


Erschienen als Gastkommentar im Tagesanzeiger, 31. Mai 2024

 
 
 

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