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Orden verleihen statt Witwenrenten abbauen

  • andreahuber3
  • Oct 25, 2024
  • 4 min read

Updated: Nov 2, 2024

Der Bundesrat will die lebenslangen Witwenrenten der AHV streichen. Das ist für viele Betroffene ein Schlag ins Gesicht. Mein erster Gedanke: Wenn schon sollten wir regelmässig einen Orden für ausserordentliche Verdienste erhalten. Der Bundesrat hat keine Ahnung, wie unsere Realität aussieht und möchte diese auch nicht kennen. Unsere Stimmen fehlen in der Politik, weil wir schlicht keine Zeit haben, uns einzubringen.


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Der Verein Aurora - Anlaufstelle für Verwitwete mit minderjährigen Kindern hatte in ihrer Vernehmlassungsantwort ausführlich beschrieben, warum nicht auf Kosten der Witwen mit Kindern gespart werden darf. Dadurch enstünde eine indirekte Diskriminierung von Frauen, so einer der Schlussfolgerungen der Analyse. Mehrere verwitwete Mütter und Väter nahmen sich die Zeit für diese ausführlichen Stellungsnahme, wenn ihre Kinder endlich schliefen. Der Bundesrat nahm nichts davon auf. Er will hunderte Millionen von Franken Sparen mit dem Kürzen der Witwenrenten. Witwen mit Kindern gehören neben Alleinerziehenden zu den Risikogruppen für Altersarmut. Es ist offensichtlich, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Wieder ein Resultat der Rechenschwäche in der "AHV-Abteilung" des Bundes? Nein, diesmal ist es gewollt: Es wird da gespart, wo mit dem geringsten Widerstand gerechnet wird. Eine Formel, die in sozialpolitischen Belangen oft gut funktioniert. 70 Prozent der Verwitweten mit minderjährigen Kindern sind Frauen. Auch darum ist das Sparpotential so gross.


Trauer und Erschöpfung

Als mein Mann im Oktober 2021 nach drei Monaten im Spital an Covid starb, war ich über alle Massen erschöpft und wie gelähmt. So geht es vielen, wenn der Partner oder die Partnerin stirbt. Anstatt mich nach dem Schliessen des Sarges und dem Organisieren der Beerdigung in einer Burnoutklinik behandeln zu lassen, war ich nun nahtlos rund um die Uhr im Einsatz für meine damals zehnjährige Tochter. Keine Chance, meine Batterien aufzuladen. Auch der Hürdenlauf mit den Sozialversicherungen setzte mir zu. Lange Zeit dachte ich jeden Abend und jeden Morgen, dass ich keinen weiteren Tag mehr schaffe. Es gab kein freies Wochenende, keine Entlastung von Aussen. Meine Tochter wollte nicht fremdbetreut werden, zu gross war die Verlustangst. Mit der eigenen Trauer konfrontiert zu sein, mich an dieses ganz neue Leben anpassen zu müssen und mein Kind in seinem grossen Verlust aufzufangen, forderte mich über alle Massen. Lange war es nicht möglich, einer Erwerbsarbeit nachzugehen.


Betroffene Kinder brauchen präsente Eltern

Fünf Kinder pro Tag verlieren in der Schweiz durchschnittlich einen Elternteil. Hunderte hinterbliebene Mütter und Väter leisten Ausserordentliches, um ihren Kindern trotz ihres heftigen Schicksals alles für eine gute Zukunft zu geben. In der Diskussion um die Rentenkürzungen lese ich nirgends den Begriff "Kindeswohl". Es hat aber einen Einfluss auf die Kinder, wie viel Zeit, Energie und Präsenz Mütter und Väter für sie haben. Und auch, ob sie unter Existenzängsten leiden oder nicht.


Die Pastellfarbenwelt des Bundesrates

Der Bundesrat stellt sich vermutlich Grossfamilien in Mehrgenerationenhäuser vor und verstorbene Männer, die über die 1., 2. und 3. Säule versichert waren. Die Kinder werden von den Grosseltern und den Geschwistern betreut, während die Mutter ihre Teilzeiarbeit weiterführt. Wegen der hohen Renten hat sie auch keine Einbussen im Alter. Und wenn die Kinder grösser sind, kann sie wieder voll arbeiten, sofern sie nicht geerbt hat. In dieser idealen Welt gibt es auch keine erhöhte Arbeitlosigkeit für 50 Plus. Ein Modellbaukasten in Pastellfarben.


Die Realität sieht anders aus

Meine Welt - und die Welt vieler Witwen - sieht aber ganz anders aus. Meine Mutter war schwer krank, als mein Mann starb. Mein Vater pflegte sie bis in den Tod. Mein Bruder wandte sich überfordert von uns ab und die Familie meines Mannes war weit weg in Argentinien. Es gab keine Entlastungsmgölichkeiten für mich. Meine Tochter klebte an mir, obwohl ich ihr neben Mahlzeiten, gemeinsamen Filmabenden und festen Umarmungen nicht viel geben konnte. Die meisten Nachbar*innen, die nach Carlos Tod versichert hatten "ihr seid nicht alleine, wir helfen euch", wurden unsichtbar und machten einen Umweg, wenn sie uns im Quartier sahen. Carlos kam mit 35 Jahren in die Schweiz und arbeitete hier als Musiker. Wir erhalten darum nicht einmal die Minimalrente der AHV und eine zweite Säule hatte er nicht. Das heisst konkret: Witwen- und Waisenrente von total 1000 Franken. Inzwischen kann ich 50 Prozent arbeiten, muss aber monatlich meine Ersparnisse, die eigentlich fürs Alter gedacht waren, nutzen, um über die Runden zu kommen.


Grosse Sicherheitslücken

Die Revision der AHV-Witwenrente kann nicht gemacht werden ohne Einbezug des BVG. Wer jung stirbt, eine Einzelfirma hatte oder Lücken bei Beitragszahlungen, hinterlässt keine oder eine sehr kleine Rente aus der Pensionskasse. Die Witwenrente der AHV ist diesen Fällen existenziell, auch über das 25. Lebensjahr der Kinder hinaus. Warum? Die Einbussen in der Zeit der Betreuungsarbeit sind sehr gross, weil nur Teilzeitarbeit möglich ist, sowohl finanziell als auch bezügliche Karrierenchancen. Diese Einbussen können teilweise kompensiert werden, wenn die AHV-Hinterlassenenrente für Mutter oder Vater bis zum Pensionsalter weiter ausgerichtet wird.


Heldinnen und Helden

Eindrücklich schildern Betroffene in diesen Berichten auf der Website von Aurora wie beschwerlich der Weg zurück ins Leben und alleine mit Kindern war und ist. "Als würde ich mich - bekleidet mit einer schweren Ritterrüstung - durch die Tage schleppen", "auf den Meeresgrund gesunken", "versteinert" - die meisten berichten auch von einer bleierner Müdigkeit, die jeden Schritt, jedes Wort und jede Handlung zur Herausforderung macht.


Ich beobachte und erlebe, dass unsere grossen Leistungen gesellschaftlich nicht wahr genommen werden. Dabei sind wir Heldinnen und Helden. Wir schaffen das Unmögliche. Irgendwann begann ich, mir regelmässig imaginäre Orden zu verleihen.

Der Entscheid des Bundesrates für die Rentenkürzung ist Ausdruck davon, dass unsere Lebenrealität nicht sichtbar oder nachvollziehbar ist. Darum zeige ich mich. Meine Botschaft an die Politik: Kürzt nicht unsere Renten, sondern verleiht uns Orden für "ausserordentliche Verdienste". Spätestens am nächsten Internationalen Tag der Witwen am 26. Juni 2025 böte sich eine erste gute Gelegenheit dazu.



 
 
 

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